Die Geister von Ellis Island – Teil 2

Ben und Jack rannten um die Wette die Treppe hinunter und liefen zur Information im Erdgeschoss, wo sich bereits eine Gruppe gebildet hatte, die ebenfalls an der Führung durch das alte Krankenhaus teilnehmen wollte. Ben beobachtete, wie ein Mann eine winzige Schaufel im Rucksack umständlich zu verstauen versuchte. „Wie seltsam, wozu er die wohl braucht“, wunderte er sich, dachte aber nicht weiter darüber nach, als die Gruppe sich langsam in Bewegung setzte.

Jane, eine Studentin, die während der Ferien als Museumsguide arbeitete, führte die Truppe an.

Ben und Jack folgten Jane und verließen zusammen mit ihrer Gruppe das Einwanderungsmuseum und gingen rechts am Kanal entlang, vorbei an mehreren Booten der US-Park-Polizei. Sie liefen auf ein beeindruckendes Gebäude zu, auf dessen Turm vier Adler mit ausgebreiteten Schwingen zu sehen waren.

„Das dort sind die Tore der Glückseligkeit“, berichtete Jack. „Wenn du dort durchgehen konntest, hattest du´s geschafft. Dann warst du frei und durftest nach Amerika einreisen.“

Jack und Ben betraten mit ihrer Gruppe ein abgesperrtes Gelände und folgten Jane einen langen Gang entlang, der zu den Innenräumen des Krankenhauses auf der anderen Seite des Kanals führte.

„Nehmen Sie sich nun Schutzhelme aus diesen Schränken“, bat Jane und blieb stehen. Sie wartete, bis sich jeder einen Helm aufgesetzt hatte, dann sprach sie weiter: „Wir betreten hier gefährliches Gelände. Zum Schutz vor herabfallenden Schutt müssen Sie Schutzhelme tragen. Folgen Sie mir jetzt. Bleiben Sie dicht hinter mir, bitte nirgendwo stehen bleiben, und betreten Sie nicht ohne meine Erlaubnis irgendwelche Räume entlang der Gänge. Ich wiederhole nochmals: Hier ist es wirklich gefährlich. Es gibt giftige Pflanzen in den Gebäuden, sie können tödlich sein. Fassen Sie nichts an! Alles klar?“, wollte Jane wissen.

„Wir sind bereit“, flüsterten die Teilnehmer von Janes Gruppe eingeschüchtert. Was wohl auf sie zukam? Manche Teilnehmer schienen sich zu fragen, ob sie besser wieder umkehren sollten. Doch es war zu spät.

Die Gruppe folgte Jane durch endlose Gänge. Ben musste zugeben, dass Jack nicht übertrieben hatte. Mit dem, was er hier sah, hatte er nicht gerechnet. Als wäre die Zeit hier einfach stehen geblieben. Zu gerne würde er sich die Räume einmal genauer anschauen.

Sie gingen durch unzählige Räume, die völlig verwahrlost waren. Alte Kabel hingen von den Wänden herunter, kaputte Rohre ragten in den Raum, der Putz fiel von den Wänden. Löcher, durch die man ein Stockwerk tiefer fallen konnte, waren zum Glück mit Holzbrettern zugenagelt.

Auf verrosteten Treppengeländern fehlten die Stufen, auf alten Holzstühlen fehlten die Sitze, verrostete Heizkörper, alte Waschbecken mit rostigen Wasserhähnen, Kloschüsseln, Badewannen oder zerbrochene Fensterscheiben lagen im Weg herum. Durch die kaputten Fenster hatten sich Schlingpflanzen ihren Weg ins Innere des Gebäudes gebahnt. „Bloß nicht anfassen!”, ermahnte sich Ben. Er hatte keine Lust, auf der Speisekarte einer fleischfressenden Pflanze zu landen.

„Das sind bestimmt die Zimmer in der Abteilung für Geisteskrankheiten“, flüsterte Ben. „Hier durfte niemand raus. Sieh dir mal die schweren Eisentüren mit den Guckfenstern an. Prost Mahlzeit! Wer da mal drin war, kam bestimmt nicht mehr lebend raus.“

Ein trostloser Platz. Das Leiden psychisch kranker Menschen in der Abteilung für Geisteskrankheiten, weggeschlossen hinter schweren Eisentüren, schien in allen Räumen spürbar zu sein. Die Abbildungen von Silhouetten und trostlosen Gesichtern damaliger Einwanderer klebten an den Wänden.

Jane drehte sich um und sah Jack warnend an, was die beiden Jungs schon wieder zu flüstern hatten. Jane war auf Jack nicht besonders gut zu sprechen. Denn immer, wenn Jane nicht guckte, schlüpfte Jack in angrenzende Räume, Gänge oder Treppenhäuser rechts und links des Weges, um die Fotos seines Lebens zu machen, wie er meinte. Jane ermahnte ihn ständig, bei der Gruppe zu bleiben, wenn sie ihn wieder mal dabei erwischte, wie er sich erneut von der Gruppe entfernte.

Plötzlich hörten Jack und Ben ein leichtes Kratzen und Schaben und eine fluchende Stimme aus einem Nebenraum kommen. Sollte es hier womöglich doch spuken?

„Hörst du das, was ich höre?“, fragte Jack.

Ben nickte.

Sie blieben unbemerkt stehen und gingen schließlich dem Geräusch nach, während Jane und die anderen aus der Gruppe so vertieft waren, dass sie nichts mitbekamen und einfach den langen Gang weiterliefen, bis sie außer Sichtweite waren.

Als Ben und Jack das Nebenzimmer mit den merkwürdigen Geräuschen erreichten, sahen sie einen Mann, der sich umständlich am Mauerwerk abmühte.

Ben erkannte den Mann sofort. Das war doch der Typ, der zu Beginn der Führung seine kleine Schaufel im Rucksack hatte verschwinden lassen. Ob er hier arbeitete?

„Suchen Sie etwas?“, fragten Ben und Jack wie aus einem Mund.

Der Mann fühlte sich ertappt. Er wirbelte herum und schaute grimmig zu den beiden Jungen. Mit einem Mal griff der Mann in seine Hosentasche und zückte ein Messer.

„Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mir nachzuspionieren? Solltet ihr nicht bei der Gruppe sein?“ Er fuchtelte dabei etwas unbeholfen mit dem Messer in der Luft herum.

Ben und Jack schraken zusammen und sahen den Mann ungläubig an.

„Bitte, wir wollten Sie nicht …“, versuchten die beiden Freunde ihn zu beruhigen.

Der Mann unterbrach sie: „Ihr wollt wissen, was ich hier tue? Das kann ich euch sagen. Vor vielen Jahren bin ich als Spion unschuldig verhaftet worden. Mein ganzes Geld habe ich hier versteckt. Nun hole ich mir das zurück, was mir gehört. Meine Rente sozusagen. So, und nun haut ab, ich habe keine Zeit, mich auch noch um euch zu kümmern.“

Das ließen Ben und Jack sich nicht zweimal sagen. Sie drehten sich auf dem Absatz um und liefen so schnell sie konnten den Gang hinunter. Kurz bevor sie ihre Gruppe einholten, stoppten sie.

„Wir können den Mann doch nicht einfach gehenlassen. Diese Agenten-Geschichte kann er seiner Großmutter erzählen“, flüsterte Ben aufgeregt. „Er hat uns mit einem Messer bedroht! Außerdem ist der jünger als mein Großvater. Der kann gar nicht als Spion hier verhaftet worden sein, denn da gab’s dieses Krankenhaus doch schon nicht mehr. Mann, wir müssen Jane das sagen.“

„Nein, das machen wir nicht. Bevor die das kapiert hat, ist der über alle Berge. Ich habe eine viel bessere Idee“, antwortete Jack und kramte rasch sein Telefon aus der Tasche.

Ben und Jack erreichten die Fähre rechtzeitig und fuhren zurück nach Manhattan. Sie schwiegen die ganze Zeit während der Überfahrt. Der Mann mit dem Messer hatte ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt.
Im Park am Hafen fiel ihr Blick auf die Statue der Einwanderer in New York, die von Hunger und Leid ausgezehrt die Ankunft in ihrem ersehnten Paradies priesen.
„Das war mehr als nur ein spukendes Krankenhaus“, sagte Ben schließlich, als sie wieder in den U-Bahn-Schacht hinunterstiegen.
„Stimmt, aber zum Glück haben wir schnell reagiert. Dieser Mann hat sich aber auch zu dämlich angestellt …“

Am nächsten Tag erzählte Jacks Mutter Susan von einer Nachricht aus der New York Times. Ein Bankräuber sei gestern, bei dem Versuch seine vergrabene Beute zu holen, im Krankenhaus von Ellis Island gefasst worden. Zwei Anrufer, die ihren Namen nicht nennen wollten, hatten die Polizei auf die Spur gebracht. „Was für ein Glück, dass ihr dem Mann nicht begegnet seid“, sagte die Mutter erleichtert. „Habt ihr mit euren Spürnasen denn nichts bemerkt?“
Ben und Jack schwiegen und stießen sich unauffällig an.
Sie wollten ihr seltsames Abenteuer erst einmal für sich behalten. Aber stolz waren sie schon, dass sie dabei geholfen hatten, einen Bankräuber zu fassen.

Ben freute sich jetzt auf den Großvater. Irgendwann, vielleicht während der Zugfahrt, würde er seiner Mutter die merkwürdige Geschichte erzählen, die ihm und Jack im Krankenhaus von Ellis Island widerfahren war.
Eins war auf jeden Fall klar: er hatte Professor Morgenstern und seiner Earthgang eine Menge zu berichten.

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